#freedeniz: Warum jetzt doch, Herr Erdoğan?

#freedeniz: Warum jetzt doch, Herr Erdoğan?

Zeitungen, Fernsehen, Radio, soziale Medien. Sie alle beschäftigt die überfällige Freilassung von Deniz Yücel, der ein Jahr und zwei Tage ohne Anklage in der Türkei inhaftiert war. Die Frage, die sich unausweichlich aufdrängt, ist: Für was? Der Fall Yücel war lange Zeit einer der wichtigsten Streitpunkte in der deutsch-türkischen Beziehung. Also warum jetzt doch, Herr Erdoğan?

„Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung,“ sagte Deniz Yücel in einem Interview der dpa. Hierbei bezieht er sich auf die Aussage Sigmar Gabriels, dass die Freilassung Yücels möglicherweise im Zusammenhang mit der Lieferung von Rüstungsgütern in die Türkei stehe. Die Einstellung Yücels ist ehrenswert. Auch wenn er wohl kaum so lange in seiner offenen Gefängniszelle hocken würde, bis jemand ihm versicherte, es hätte keine Absprachen gegeben. Letztere habe es allerdings tatsächlich nicht gegeben, berichtet die „Welt“. Wenn es also kein Deal war, der Deniz Yücel die Freiheit geschenkt hat, wer oder was war es dann?

„Türlich. Unabhängigste Justiz wo gibt von ganse Welt.“

So Yücel auf die Frage, ob er an die Unabhängigkeit der türkischen Justiz glaube. Sowohl der türkische Ministerpräsident Yıldırım als auch Präsident Erdoğan hatten immer wieder auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz verwiesen und betont, man könne höchstens das Verfahren versuchen zu beschleunigen. Für den außenstehenden Betrachter ist es natürlich schwer vorstellbar, dass eine Einflussnahme seitens der Regierung auf das Verfahren nicht nur Yücels, sondern auch die der anderen mindestens 155 Journalisten, die aufgrund ihrer meist regierungskritischen Arbeit inhaftiert sind, nicht möglich ist.

Denn natürlich nimmt die Politik Einfluss auf Festnahmen, die allein politisch motiviert waren, in manchen Fällen sogar ziemlich direkt. Das behauptet zumindest Yücel im dpa-Interview: „das Justizministerium hat sich in den vergangenen Wochen in seinen Stellungnahmen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowie ans türkische Verfassungsgericht den Vorwürfen aus dem Hafturteil gegen mich angeschlossen. Die Regierung ist kein Zuschauer, sie ist Partei, auch ganz offiziell.“ Wem soll hier etwas vorgemacht werden? Gabriel mag noch so oft die Unabhängigkeit der türkischen Justiz betonen, aber „Ein Wort vom Chef und Anklageschrift, Prozesseröffnung und Freilassung laufen in Rekordzeit“, so Yücel.

Festnahmen werden zur Belastung für die Türkei

Wenn es also tatsächlich nicht daran liegen sollte, dass die Justizbehörden zufällig nun fertig sind mit dem Verfassen der Anklage, warum lässt die Türkei Yücel frei? Schließlich ist er in den Augen Erdoğans ein Terrorist. Die Antwort hat möglicherweise das „Handelsblatt“ in ihrem hellseherischen Artikel vom 15.02.2018, also einen Tag vor Yücels Freilassung, betitelt mit „Warum Deniz Yücel bald freikommen wird“. Der Journalist Ozan Demircan argumentierte hier, dass die Bundesregierung eben nicht nachgegeben habe, um Yücels Freiheit zu erlangen. Stattdessen habe sie eine Verschärfung der Politik zwischen den beiden Ländern vorgesehen. In diesem Fall drohe eine starke Belastung der Wirtschaft, die sich die türkische Regierung nicht erlauben könne. Die Festnahme Yücels und der anderen Deutschen habe sich nicht als Druckmittel entpuppt, sondern als Belastung. Diese Argumentation passt zu den Freilassungen des Menschenrechtlers Peter Steudtner im Oktober und der Journalistin und Übersetzerin Meşale Tolu im Dezember.

Dass auch im Fall Yücel eine Annäherung seitens der Türkei versucht wird, steht im Einklang mit der Politik der letzten Monate. Die Intention hinter der Annäherung bleibt allerdings Spekulation. Möglicherweise will man zumindest in Richtung Europa die Beziehungen stärken. Dies wäre vor allem wichtig, nachdem man aufgrund der Stationierung von US-amerikanischen Soldaten in Syrien eine direkte Konfrontation mit einem Bündnispartner riskierte. Möglicherweise sind wirtschaftliche Interessen der treibende Faktor. Möglicherweise hofft man auch immer noch auf die Auslieferung einiger Beteiligter am Putschversuch. All das wird sich wahrscheinlich in den nächsten Monaten zeigen. Zunächst kann jeder von uns – und zwar egal, wie man zu seinen Texten stehen mag – froh über Deniz Yücels wiedererlangte Freiheit sein. Und auf die Freilassung der anderen mindestens 155 Journalisten hoffen.

FOTO: CC Alte Wilde Korkmännchen, unverändert

 

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