Regalbretter, die die Welt bedeuten
Er steht mal wieder draußen: Der kleine Holztisch mit der Plastikblumenwiese drauf. Davor hängen vier in Versalien gedruckte Buchstaben: O P E N. Die Blumenwiese ist zu seinem kleinen Markenzeichen geworden. Passant*innen bleiben davor stehen, machen Fotos, oder lassen sich schließlich reizen, einen Blick in den Laden zu werfen, neben dem das Tischchen steht: My Regalbrett.
Auch ich lasse mich anziehen und werde vom Ladenbesitzer Moritz mit einem breiten Grinsen begrüßt. Der junge Student sitzt wie fast jeden Tag unter der Woche hinter der schmalen Theke und blättert in irgendwelchem Papierkram. „Ich habe heute endlich den Steuerkram fertig bekommen“, sagt er und wirkt dabei gelassen. Mich lässt allein das Wort „Steuern“ erschaudern. Aber Moritz ist irgendwie anders. Vor gut einem Jahr hat der gebürtige Marburger einfach mal so diesen Laden eröffnet. „Die Idee war schon länger da und ich hatte immer ein Auge offen für Gewerbeflächen“, sagt er. 2013 fand er schließlich den Raum neben der Absinth-Bar. „Da war hier alles noch in Rohfassung.“ Am Ende packte er selbst bei der Fertigstellung mit an und eröffnete schließlich am 19. Februar seinen eigenen Shop.
„Ich mache nichts!“
Moritz ist 23 Jahre alt und studiert Wirtschaftsingenieurwesen in Gießen. Nachdem er in Nieder-Weimar aufgewachsen ist, hat es ihn aber wieder zurück nach Marburg gezogen. „Ich steh voll auf Marburg!“, gesteht er und erzählt mir, dass er sich sogar vorstellen könnte, hier irgendwann eine Familie zu gründen. Mit dem Laden hätte er zumindest schon einmal die finanzielle Vorsorge abgedeckt. Und die Wochenenden gibt er sich bereits frei. Man kann ja auch nicht alles machen. Auch wenn das ganz und gar nicht Moritz‘ Motto zu sein scheint. Neben dem Laden studiert er nämlich nicht nur, sondern schreibt nebenbei noch an einem Buch und an zwei Apps. Kann man ja mal machen. Außerdem geht er häufig seiner Leidenschaft des Wakeboardens nach, das im Übrigen zum Großteil den Laden finanzierte. Moritz schlägt sich nämlich auch bei Wettbewerben wacker und räumt gerne das ein oder andere Preisgeld ab.
Im Laden erwartet den Gast eine Palette an farbenfrohen Produkten, von Schmuck über Fotografien bis hin zu Holz- und Handwerkkünsten. Besonders gefallen mir die Apfelgelee-Gläser direkt am Eingang. „Glücklicher Apfelgelee“ steht auf einem und „Küssender“ auf einem anderen. Einer liebt sogar. Man könnte hier Stunden nur mit Stöbern und Gucken verbringen, doch heute setze ich mich erstmal hin. Auf die kleine Couch, die direkt hinterm Schaufenster steht und auch schon irgendwie zum Markenzeichen geworden ist. Die ist übrigens auch eins der wenigen Möbel, die den Raum zu Beginn des ganzen Projekts füllten. Bei Eröffnung war der Laden nämlich noch komplett leer. „Ich hatte gar nichts“, erzählt Moritz. „Ich hab mich hier einfach reingesetzt und gesagt: Ich mache nichts!“ Lediglich seinen PC hatte er dabei, hat sich W-Lan von den Nachbarn aus dem ersten Stock geschnorrt, ein bisschen über Flyerdesigns und Ladeneinrichtung nachgedacht und gewartet. Tag für Tag. Einen ganzen Monat lang ging das so.
„Tolle Ausstellung!“
Man könnte jetzt denken: Wow. Der war einfach faul! Doch in Wirklichkeit steckt auch hinter dem Nichtstun ein zugegebenermaßen ziemlich kluger Gedanke: „Hätte es eine große Eröffnung gegeben, wäre der Laden vermutlich einmal überflutet gewesen und danach nie wieder“, erklärt der junge Unternehmer. „Ich möchte ja Kundschaft hier reinholen, die wirklich hier reinkommen will. Deshalb muss man es umgekehrt versuchen. Sich eben so interessant machen, dass die Leute von selbst kommen.“ Und tatsächlich scheint „nichts“ ganz schön interessant zu sein. Im Schnitt fünf Personen sollen täglich den komplett leeren Laden betreten haben. „Tolle Ausstellung“, kam dann als Kommentar. Doch das ist genau das, was Moritz wollte: „So fangen die Leute an, drüber zu reden. Im Schnitt sind sie zwei Mal in der Stadt und wenn sie dann so drei Wochen am Stück diesen Laden leer stehen sehen, dann kommen die auch rein und fragen mich: ‚Was ist denn das hier? Warum ist das denn so leer, da kommt ja keiner rein.‘ Dann kann ich nur entgegnen: Ja aber warum seid ihr denn dann jetzt hier?“
Aufgegangen ist sein Plan jedenfalls einwandfrei. Sechs Flächen waren im März vermietet, im Mai bereits 31 und im August war der Laden schließlich komplett ausgebucht. Das Konzept von My Regalbrett ist dabei recht simpel. Im Laden stehen insgesamt 107 Regalbretter, die, in Hinsicht auf Platzierung und Größe, zu unterschiedlichen Preisen pro Monat vermietet werden. Derzeit sind beispielsweise 102 individuelle Mieter*innen bei Moritz unter Vertrag, für Weihnachten sind die Regale bereits so gut wie ausgebucht. Tanja Grein ist eine von den Mietenden. Sie verkauft Schmuck, den sie aus ecuadorianischen Taguasteinen herstellt. Der Laden, findet sie, ist dabei „eine gute Gelegenheit, erstmal auszutesten, ob sowas überhaupt ankommt.“ Ähnlich sieht das auch Anja Elmsheuser. Sie bietet seit März 2015 frei nach ihrem Motto „Hol dir die Ferne in dein Zuhause“ eigene Fotografien auf Holz an. Mit My Regalbrett hat sie dabei nur positive Erfahrungen gemacht. „Moritz ist sehr kreativ und aufgeschlossen für unterschiedliche Künstler.“, sagt sie. Außerdem findet sie, dass der Laden „eine absolute Bereicherung für eine Universitätsstadt wie Marburg“ ist.
Die rote Lok als Vorwarnung
Aufgeschlossen, das ist Moritz allemal. Und mutig. Komplett im Alleingang zog er den Laden hoch. Nicht einmal seine Eltern wussten von seinem Plan. „Ich wollte mich nicht entmutigen lassen oder mich für irgendwas rechtfertigen müssen.“, erklärt er. Bis zur Ladeneröffnung hatte kein Mensch eine Ahnung. „Dadurch bin ich ganz anders an die Sache rangegangen – viel organisierter und gelassener.“ Es hat sich ausgezahlt. Der Laden läuft und ist beliebt. Vor allem am Wochenende rennen ihm die Leute die Bude ein. Oft ist ihm die rote Lok, die an vielen Tagen stündlich an seiner Fensterscheibe vorbeituckert, eine Vorwarnung. „Je nachdem, wie viele da drin sitzen, weiß ich, was hier gleich los sein wird.“ Und auch die Brettmieter*innen sind zufrieden. „Der Laden ist in einer sehr guten Lage einladend aufgebaut und wird gut besucht.“, sagt zum Beispiel Kai Knecht, staatlich geprüfter Holztechniker und Tischlermeister, der seit Mitte 2014 eigens hergestellte Accessoires aus verschiedenen Edelhölzern in Verbindung mit deutschem Echtleder bei My Regalbrett verkauft.
Nun soll ein größerer Laden her. Moritz träumt von einem Bücherabend, von Weinproben oder aber einfach nur einer gemütlichen Sitzecke, in der man mit einem Käffchen oder einem Teechen kurz durchatmen kann. Dabei sind Kaffee und Tee selbstredend auch selbstgemacht. Die nötigen Kontakte hätte er jedenfalls schon. Man begreift schnell: Moritz hat große Pläne und ihm fehlen mitnichten der nötige Ehrgeiz und Optimismus dafür. Der junge Student lebt frei nach der Devise „learning by doing“ und bisher scheint das ja auch ganz gut zu funktionieren.
FOTOS: Paul Schmidt
PHILIPP-Gründerin und Chefredakteurin von 2014 - 2017.