Tunnelblick in Marburg

Tunnelblick in Marburg

2020 – Ein Abend im Steinweg

Es ist Nacht in Marburg. Niemand sitzt mehr in der „Gartenlaube“ am Fuße des Steinwegs, die letzten Leute taumeln mit Bierfahne aus dem „Sudhaus“. Aus der Oberstadt hört man noch reges Treiben, manchmal dumpfe Bässe und motivierte Schreie, die eine lange Nacht versprechen. Dort, zwischen „Cavete“, „Spock“ und dem „Tunnel“, genannt: „Bermudadreieck“. Wenn zwischen Miami, Puerto Rico und Bermuda Schiffe auf mysteriöseste Weise versinken, so tun es ihnen die Feiernden in Marburg an diesem magischen Ort gleich. Schon vor den Kneipen wird sich zu den Klängen bewegt, die immer erst dann als Musik zu vernehmen sind, wenn sich die Tür einen Spalt weit öffnet. Die üppigste Menschentraube ist vor dem Tunnel versammelt. Ein Hauch Berghain im Marburger Nachtleben. Die Menschenmasse zieht um den Terrassenvorbau am – im betrunkenen Zustand – steilen Hang in Richtung Späti.

Keine Masken. Kein Corona. Eine unwirkliche Zeit. Anfang 2020.

20.02.2022 – Zwei Jahre später

Ein Mädchen flaniert hüpfenden Schrittes den Steinweg hinunter. Der Frühling bricht an: Die vereinzelten Wolkenfetzen hindern die Sonne nicht daran, den Steinweg in ein gleißendes Licht zu werfen. Es ist kalt. So sehr, dass das Mädchen ihre Hände in den Seitentaschen ihrer Daunenjacke eingräbt. Sie hält kurz inne, um den Reisverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn zu verschließen. Sie lässt ihren Blick über den Steinweg gleiten und bleibt beim Tunnel hängen. Vielleicht, weil sie in Erinnerungen schwelgt. Wahrscheinlicher ist es aber, dass sie ihre Aufmerksamkeit dem Mann widmet, der sie ein wenig zu exaltiert angrinst und nun einen Schritt auf sie zugeht. Dieser Mann bin ich. Und ich habe Fragen im Rucksack, die darauf warten ausgepackt zu werden.

Mit Maske. Sie auch mit Maske. Corona. Anfang 2022.

„Jeder Filme Filme Filme Abend, das war immer das absolute Highlight“ kommt es aus ihr geschossen, noch bevor ich meine Frage nach ihren liebsten Tunnel-Erinnerungen zu Ende formulieren kann. Außerdem sei der Tunnel für sie immer ein „Safe Space“ gewesen. Der „Vibe“ sei jedes mal anders, „manchmal läuft da Falco, manchmal läuft Hard-Tech und manchmal läuft Trap“. Bevor sie ihren Weg Richtung E-Kirche fortsetzt, schwärmt sie von Zeiten, in denen das Tanzen noch möglich war, sie sich den ersten (und auf keinen Fall letzten) Centershot genehmigte und dem Zitat „‘Nichts fickt dich so hart wie die Zeit‘ – oder sowas“, das zwischen den beiden Toiletten prangt und es schon häufig den Weg in ihre Insta-Story geschafft habe. „Ich hoffe es ist bald wieder wie vorher“, schiebt sie gehenden Schrittes hinterher.

„Nichts fickt dich so hart wie die Zeit“: Ein Zitat, das in Zeiten der Coronapandemie eine weitere Ebene bekommt. Die Kultur und die Gastronomie atmen im Sommer auf, um im Winter wieder schließen zu müssen. Einige von Ihnen überstehen die Winter nicht. Unter Freunden und Komillitonen hören wir, dass es dieses Jahr den Tunnel treffen könnte. Es sind nur Gerüchte, aber die Leute, die sie bestätigen stehen dem Tunnel und dem Inhaber nahe. Nah genug für uns um nachzufragen.

22.02.2022 – Wir treffen Behrang

Behrang Javadani hat den Tunnel mit aufgezogen. Seit 2015 ist er alleiniger Inhaber. Im Pandemiejahr 2020 wagte der 36-Jährige eine Flucht nach Vorne. In dieser ungewissen Zeit kaufte er das „Szenario“ und das Bistro „Auflauf“, das er in „Damals hinterm Mond“ umtauft. Wir treffen den Marburger im Damals, wie es vom Personal und den Gästen genannt wird. An seinem Handy googlend sitzt er neben dem Eingangsbereich. Vor zwei Tagen hatte der Krieg in der Ukraine begonnen. Im Angesicht des erschütternden Ereignisses fällt es ihm schwer über seine Lokale und die Strapazen der letzten Jahre zu reden. Trotzdem liegt ihm viel daran.

Einen konkreten Plan, Barbesitzer in Marburg zu werden, habe es für Behrang nie gegeben. Sein ehemaliger Chef aus seiner ersten Stelle in der Gastronomie habe bei ihm zwar einen bleibenden Eindruck hinterlassen, trotzdem studierte er zunächst Wirtschaftsingineurwesen in Friedberg bei Frankfurt: „Ein paar Jahre später hatte ich richtig Bock wie mein früherer Chef coole Leute einzustellen, ein gutes Team zu haben und irgendwie Geld mit der Gastro zu verdienen.“ Zum Tunnel sei Behrang gekommen, weil sein Freund der Besitzer des Tunnelvorgängers, dem Pink fat Rabbit, war. „Ich hatte immer weniger Lust aufs Studium und in dieser Zeit lief der Tunnel zu gut und ich hab‘ gemerkt, dass ich so selbstbestimmt leben kann und meine Arbeit mir Spaß macht“, erinnert er sich. Die moderne weiße Klavierlackbar vor dem Tunnel sei 2013 allerdings nicht gut gelaufen.

„…der Tunnel…Techno, Schwarz und wie er jetzt ist.“

Behrangs Idee von einer Kneipe sei damals, dass sie etwas authentischer, verruchter sein sollte: „Mal doch alles Schwarz an, piss gegen jede Wand und stell Sperrmüll rein. Das ist genau geil für Marburg!“, erzählt er. Trotz des wenigen Betriebes anfangs sei es 2014 mit einem Partner und Behrang als Geschäftsführer besser gelaufen. „Dann wurde der Tunnel zu Techno, Schwarz und wie er jetzt ist. Wo es Wundertüten gab und am Montag um 14 Uhr die halbe Stadt vor unserer Tür steht. Von Techno sind wir irgendwann zu den 80s gekommen und zu Disco und ganz viel Liebe. Und das war dann unser Ding – unser Baby.“, schwärmt Behrang.

Behrang kaufte die übrigen Anteile am Tunnel in den kommenden Jahren auf. Es sei seine erste Bar gewesen. Angst vor dem Risiko habe er aber nicht gehabt. „Ich bin generell der festen Überzeugung, dass es etwas wird, wenn du viel Herzblut reinsteckst. Im Tunnel steckt sehr viel Herzblut. Wir haben millionenmal dort renoviert, hatten Wasserschäden, haben das Ding wieder von vorne aufgebaut und, und, und, und. Wir waren mit die jüngsten Kneipies der Stadt. Das war von Studenten für Studenten.“, berichtet er. Hauptprodukt seiner Bar seien nicht die Getränke, wie er uns offenbart. Momente, an die man sich gerne erinnert, möchte Behrang seinen Gästen mitgeben: „Ich möchte den Leuten ein Gefühl verkaufen. Ob Techno, Hip Hop oder Hits; am Ende wäre es cool, wenn wir ein paar Evergreens spielen. Ich bin der festen Überzeugung, wenn man am Ende des Abends mit-grölen und mitsingen kann, dann bleibt das krass im Gedächtnis“, sagt Behrang. Auch wenn der Job mit dem Alter anstrengender wurde, scheint er sehr glücklich gewesen zu sein. Julian vermutet, dass der Kater mit der Zeit schlimmer wird. Behrang antwortet: „Der Kater wird viel schlimmer!“

Corona, Frust und geschlossene Läden

Zuhause isoliert, fällt ihm die Decke auf den Kopf. In der Pandemie erging es Behrang wie vielen Anderen in Deutschland. Die beruflichen Konsequenzen sah er damals noch nicht: „Die Pandemie war in meinem Kopf ‘ne kurze Phase. So drei, vier Monate. Ich verliere Kohle, aber Gott sei dank hatte ich Geld an die Seite gelegt. Es wurde jedoch schwieriger mit jedem Lockdown und jetzt sind es schon über zwei Jahre“, erinnert er sich. Die Gastronomie litt unter den wenigen Kunden und Lockdowns während des umsatzstarken Wintergeschäfts sowie unter den steigendende Personalkosten, um die Hygienekonzepte einzuhalten. „Es gehört mittlerweile zum guten Ton, Leute zu kontrollieren, aber wir leben nicht von 24 Gästen am Abend in einer Studentenstadt wie Marburg. Das Kerngeschäft ist nun mal im Winter und im Sommer ist es schwierig, weil der Tunnel eine Sauna wird. Du kommst rein, es ist schwarz und du gehst ein“, sagt Behrang.

Die „Coronaleiche“ Tunnel mache ihm aber noch mehr zu schaffen als die fehlenden Einnahmen. Seinen Gästen könne er nicht mehr dasselbe Produkt anbieten, es sei nicht mehr derselbe Job. „Corona killt den Vibe! Es macht mich mittlerweile eher traurig in meiner eigenen Bar zu sein. Ich weiß, dass ich mich mit ganz Vielem strafbar machen kann und dieser Kontrollzwang… . Es ist nicht das, was ich mit einem meiner besten Freunde zusammen erschaffen hab‘. Es ist jetzt die Bar von irgendwelchen Gesetzen. Die sind auch völlig okay und angebracht, aber ich stehe nicht mehr zu 100 Prozent dahinter und habe sogar darüber nachgedacht den Tunnel abzustoßen und mich mehr auf das Damals zu konzentrieren, erzählt Behrang. Just in dem Moment unterbricht ihn ein Mitarbeiter. Es geht um einen 3 Tage alten Test. Er verdreht die Augen, schaut verständnislos und zugleich betroffen aus dem Fenster, zuckt mit den Schultern und antwortet fast maschinell: „Geht nicht, ist älter als 24 Stunden“. Er atmet tief aus, schaut uns mit einem Blick an, der uns innere Leere und Zerrissenheit signalisiert und nuschelt in seine Faust, ob er jetzt auch noch das Ordnungsamt sei.

Mitten in dem Dickicht aus Unsicherheit, Frust und Machtlosigkeit beschloss Behrang 2020 das Bistro Auflauf und das Szenario aufzukaufen. „War wahrscheinlich blauäugig, aber mir war auch die Decke auf den Kopf gefallen. Ich hatte noch etwas Geld und man durfte ja keinen Alkohol verkaufen, aber andere Getränke zum mitnehmen. Ich hatte dann mit dem alten Pächter und dem Vermieter geredet und sagte, dass ich das gerne übernehmen würde, wenn er raus will. Außerdem ist das Szenario Teil des ehemaligen „Auflaufs“ und da hatte ich schon immer darauf geschielt, weil der Tunnel immer mehr Club als Bar seien wollte“, erzählt er uns. Dort sollen auch wieder Konzerte und eine Kleinkunstbühne Einzug erhalten. Die ehemaligen Tunnelmitarbeiter David Umbach und der DJ SEARCH sollen das Gemeinschaftsprojekt Szenario leiten. Behrangs Hauptprojekt sei das Damals geworden.

Flucht nach Vorne – Das Damals und das Szenario

„Mit dem Alter wird das Nachtleben anstrengender und obwohl ich noch nie ein Café hatte, ist das ‘Damals‘ ganz gut geworden. Das war nicht selbstverständlich. Ich arbeite hier selber im Team und merke, dass Alle an einem Strang ziehen. Während der Lockdowns habe ich selber renoviert und es fühlt sich an wie die Anfänge vom Tunnel“, erzählt Behrang. Auch hier helfen die Pandemiemaßnahmen nicht wie gewünscht. „Tragisch ist, dass wir hierfür keine Coronahilfen bekommen haben, weil der Laden in der Pandemie eröffnet wurde. Das weißt du ja nicht vorher. Ich hab da einfach ein Nope bekommen. Damit helfe ich auch Menschen, die sonst vielleicht Pleite gehen. Der Vormieter kann seine Schulden loswerden und meine Angestellten können weiterhin arbeiten und bezahlt werden, sagt er.

Behrang scheint sich unschlüssig zu sein. Clubs, Veranstaltungen im Szenario und die Partys im Tunnel sollen bald zwar wieder möglich sein, die eher naiv-positive Einstellung scheint ihm allerdings viele Nerven in den letzten Jahren gekostet zu haben. „Deswegen stecke ich aktuell weniger Energie in den Tunnel, bis mir jemand sagt: Das war’s mit Schließungen und Einschränkungen. Ich könnte es mir aber auch nicht verzeihen, wenn ich den abgeben sollte, dass jemand eine andere Bar daraus macht“, erklärt er. Er möchte nicht erneut enttäuscht werden. An sich sei die Motivation nämlich da. „Ich hab auch Bock drauf, dass sich vieles normalisiert und Planungssicherheit wieder da ist. Ne Anzeige wegen Ruhestörung sehne ich mir herbei und dass ich mit dem Ordnungsamt diskutiere, warum die Straße so voll ist“, sagt er schmunzelnd.

04.03.2022 – Wiedereröffnung des Szenarios

Clubs und Bars dürfen in Hessen trotz hoher Inzidenzen wieder den Tanzbereich öffnen, was für gespaltenen Reaktionen sorgt. Das Szenario erfreut sich dennoch einer hohen Nachfrage. Behrang schaut an diesem Tag kurz im Damals vorbei. Er sei froh, dass wieder etwas möglich ist, aber die Unsicherheit, wie lange die Öffnung anhält, mache ihm trotzdem Sorgen. Erleichterung sieht anders aus. Im Tunnel sind ca. 20 Menschen; die Vorfreude, wieder tanzen zu gehen, scheint riesig, was sich auch an der Lautstärke bemerkbar macht. Nach etwa zweieinhalb Stunden kommt das Ordnungsamt vorbei: Es gab Beschwerden wegen Ruhestörung. Behrangs Wunsch geht leider in Erfüllung. Sie drohen dem Tunnel- und Szenariopersonal die Lokale zu schließen, wenn sich nicht um die Lautstärke und die Personenanzahl draußen vor den Lokalen gekümmert würde. Kompromisse scheinen nicht möglich zu sein, um den Betrieb im Szenario erhalten zu können. Die Wiedereröffnung ist kurz danach vorbei. Einige enttäuschte Gäste gehen vom Senzario rüber in den Tunnel, die Meisten suchen nach einem anderen Dancefloor in der Oberstadt.

21.04.2022 – Nach der Maskenpflicht

Auch wenn das Szenario weiterhin geschlossen blieb, konnte sich zumindest im Tunnel wieder frei bewegt werden. Etwa einen Monat darauf wurden auch die Einlassbeschränkungen und die generelle Maskenpflicht für Innenräume aufgehoben. Eine Erlösung für Bar- und Clubbetreiber? Wir telefonieren am Abend mit Behrang.

Am Wochenende hat der Tunnel auf und es sind im Szenario und Damals Veranstaltungen geplant. „Alle drei Läden haben jetzt wieder meine volle Aufmerksamkeit. Die letzten Monate waren eine zermürbende Phase, am Tiefpunkt dachte ich mal ans hinschmeißen. Die Zeit ist zum Glück vorbei“, sagt Behrang. Für den Tunnel sei ein neues Team zusammengestellt worden, es sollen neue Möbel kommen und die Motivation sei da. Behrang hört sich deutlich weniger schwermütig an. Einzig die Wiedereröffnung des Szenarios bereite ihm unvorhergesehene Probleme. „Das hat einen riesen Rattenschwanz nach sich gezogen. Das Ordnungsamt hat die Betriebsgenehmigung komplett durchleuchtet“, so der 36-Jährige. Das Szenario habe eine Genehmigung als Bar und Kleinkunstbühne. (Techno-)Partys zähle die Stadt nicht zu kulturellen Veranstaltungen. Die Kosten einer neuen Genehmigung über Ämter und einen Architekten seien im vierstelligen Bereich. „Die Stadt möchte Kultur, aber nur die, die sie vorschreibt.“ Keine Probleme der Pandemie, aber ernüchternde Probleme für pandemiegeplagte Kulturbetriebe.

Behrang ist trotzdem erst mal optimistisch. „Jetzt ist wieder viel möglich. Das Szenario kann zunächst etwas entspannter laufen“, sagt er. Gefühlt sei die Pandemie durch die Aufhebung der Eingangsbeschränkung und der generellen Maskenpflicht vorbei. Die Sorge, dass sie wiederkommen, teilt er aber: „Ich gehe schwer davon aus, dass im Herbst wieder Beschränkungen kommen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass man sich keine Hoffnungen machen sollte.“ Ein anderes Pandemiejahr, aber ähnliche Vorzeichen.

Fotos: Julian Stopa

Macht irgendwas mit Medien (privat, freiberuflich & im Studium) und schnackt euch jetzt nicht mehr nur noch über die Radiofrequenz das Ohr über Themen ab, denen er wenig Wissen, aber viel Spaß beisteuern kann.

studiert Politikwissenschaften, verbringt zu viel Zeit um sich über die BILD aufzuregen und isst süßes und salziges Popcorn gemischt.

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